Interview: Kompass Praxisforschung

Nach fünf Jahren Projektarbeit im Praxisforschungsnetzwerk NutriNet haben wir im „Kompass Praxisforschung“ unsere Erkenntnisse zum Praxisforschungsprozess zusammengefasst. Die Autorinnen Dr. Babett Jánszky und Dr. Henrike Rieken geben im Interview einen Einblick in die Veröffentlichung.

Praxisforschung heißt, dass Personen aus Wissenschaft, Praxis und Beratung gemeinsam an Herausforderungen im Ökolandbau forschen und anwendungsorientierte Lösungen und wissenschaftliche Ergebnisse erarbeiten. Ziel im NutriNet ist es, gemeinsam Versuchsfragen zum Nährstoffmanagement zu entwickeln, die wissenschaftlichen Versuche auf landwirtschaftlichen Betrieben durchzuführen, relevante Erkenntnisse für alle Beteiligten zu gewinnen sowie sie weiteren Interessent*innen zugänglich zu machen.

An wen richtet sich der „Kompass Praxisforschung“?

Henrike Rieken: Der Kompass richtet sich an Personen, die transdisziplinär forschen (wollen) und entsprechende Netzwerke aufbauen und umsetzen möchten. Er richtet sich also insbesondere an Forschende und Koordinierende.

Babett Jánszky:  Zugleich kann der Kompass auch Förder*innen und Gutachter*innen von Praxisforschungsvorhaben eine Orientierungshilfe bieten, um zu überblicken, worauf es in Praxisforschungskonzepten ankommt. Dies ermöglicht, erfolgversprechende Start- und Umsetzungsbedingungen zu schaffen.

Was ist generell zu beachten beim Aufsetzen eines Praxisforschungsnetzwerks?

Rieken: Wichtig ist, zunächst klar herauszuarbeiten, auf welchem Bedarf das Projekt aufbaut und welche Lücke bearbeitet werden soll. Fragen, die hier wichtig sind: Wer ist aus welchen Gründen wie zu beteiligen? Woran knüpft das Vorhaben an? Welche marginalisierten und welche dominanten Stimmen werden von welchen Personen oder Institutionen herangetragen?

Jánszky: Entscheidend ist: Jedes Netzwerk muss individuell gemeinsam erarbeiten, was die jeweiligen Bedingungen der Zusammenarbeit sind und welche konkreten Zielstellungen verfolgt werden sollen. Es gibt keine Blaupause, die überall, zu jedem Thema und mit allen Beteiligten funktioniert. Eine gute Ratgeberin dafür ist gerade – aber nicht nur – maximal mögliche Transparenz in der Konzeptionsphase.

Wie unterscheiden sich die Erwartungen der an der Praxisforschung beteiligten Personen?

Jánszky: Natürlich sind die verschiedenen Beteiligten darauf fokussiert, ein für sie anwendbares Ergebnis zu erzielen. Das ist in der Wissenschaft – mal ganz verkürzt heruntergebrochen – eine möglichst wissenschaftlich publizierbare solide Datenauswertung, für die Beratung etwas, das eine gewisse betriebsübergreifende Gültigkeit hat und für die Betriebe selbst Erkenntnisse, die ihre Arbeit auf dem Betrieb konkret erleichtern bzw. verbessern.

Rieken: Auch in der Gruppe der Wissenschaftler*innen ist es ja nicht die „eine“ Erwartung. Denn unterschiedliche Disziplinen und Schulen können ganz unterschiedliche Erwartungen zum Beispiel an das Versuchsdesign und die Art und Weise der Auswertung haben. Die jeweiligen Gruppen, klassisch die drei Beratung, Wissenschaft und Praxis, sind in sich auch divers. 

Wie können diese unterschiedlichen Erwartungen unter einen Hut gebracht werden?

Jánszky: Es ist wichtig, die eigenen Erwartungen ganz klar zu erkennen und sie auch entsprechend kommunizieren zu können. Entscheidend ist, dass diesem Austausch und der Entwicklung von Prozessen genug Raum gegeben wird. Wichtig dafür sind an die Gruppe und das individuelle Setting angepasste Kommunikationsformate.

Wie ist es möglich, dass alle Beteiligten motiviert bleiben?

Rieken: Die Landwirt*innen haben im NutriNet eine feste Ansprechperson, den/die Regioberater*in, für die Bearbeitung ihrer Anliegen und Versuchsfragen sowie als Schnittstelle zum Gesamtprojekt. Wir haben die Fieldschools als Format aufgebaut, welche von den Berater*innen begleitet werden. Diese regelmäßigen physischen Treffen helfen, um Beziehungen und Vertrauen aufzubauen. Die Regioberater*innen und Landwirt*innen haben auf ihren internen Treffen immer sehr viel Spaß. Wir haben insgesamt Glück, dass wir als Netzwerk einen ähnlichen Humor haben. Und ein hohes Commitment zum NutriNet-Projekt vorhanden ist. Was ich auch denke, was viele motiviert hält, ist unsere sehr gute Koordination. Für die Gruppe der Landwirt*innen können wir feststellen, dass die Arbeit an eigenen Themen, das gemeinsame Lernen und die Kollegialität – gehalten von einer professionellen Berater*in – motivierend für die Teilnahme sind. Auch die monetären Aufwandsentschädigungen tragen dazu bei und sind wichtig, mögliche versuchsbedingte Verluste der Betriebe zumindest ein bisschen aufzufangen.

Welche Kompetenzen sollten Wissenschaftler*innen und Berater*innen mitbringen?

Rieken: Ich fange mal mit den Berater*innen an. Offenheit, Initiative, Empathie, Lernfähigkeit und Verbindlichkeit sind hier wichtige Kompetenzen. Aber auch Kenntnisse über Gruppenberatung, Moderation und Prozessgestaltung sowie im NutriNet zum Thema Nährstoffmanagement sind wichtig. Hilfreich sind auch Erfahrungen zu Datengewinnung, -aufbereitung und -analyse, um die Ergebnisse aus den Versuchen „übersetzt“ zurück in die Gruppen spiegeln zu können.

Jánszky: Für Wissenschaftler*innen ist neben der fachlichen Expertise entscheidend, sich auf einen Ansatz einlassen zu können, der von einer Gleichberechtigung aller Wissensqualitäten ausgeht. Dafür ist es wichtig, zuhören zu können und z.B. einordnendes Erfahrungswissen als einen Mehrwert zu erkennen. Schließlich dient dieses Wissen unter anderem auch dazu, die eigene Facharbeit in einen Systemkontext zu stellen und es damit weiter aufwerten zu können. Und man muss auch ein bisschen mutig sein. Erkenntnisse von Praxisforschung haben noch immer nicht das gleiche Standing im Wissenschaftskontext wie peer-review-taugliche Forschungsvorhaben. Das liegt aus unserer Sicht auch daran, dass noch zu wenige Qualitätskriterien für Praxisforschungsvorhaben beschrieben sind. Das ist notwendig, um die Praxisforschungs- und transdisziplinäre Ansätze noch stärker dafür nutzen und auch in die Breite zu bringen, für was sie sind: ein wichtiger Hebel für die Erarbeitung transformationsorientierter Lösungen.

Welche Empfehlungen schließt ihr daraus für forschungspolitische und förderrechtliche Rahmenbedingungen?

Jánszky: Gerade in der Anbahnung ist ein sensibles Aufbauen von Strukturen und Formaten enorm wichtig, um ein erfolgversprechendes Setting zu bauen. Das braucht ausreichend zeitliche Ressourcen bei allen Beteiligten. Genauso wichtig ist Flexibilität, um auch mal etwas anders machen zu können als ursprünglich geplant. Für einen klaren Blick darauf braucht es auch die Ressourcen für eine Prozessbegleitung in Form einer formativen Evaluierung.

Rieken: Auch die Etablierung von entsprechenden Karrierewegen in der Forschung ist essenziell. Also, dass es für Nachwuchswissenschaftler*innen eine Qualifikationsumgebung gibt, die einen solchen transdisziplinär ausgerichteten Weg möglich macht und nicht in einer Sackgasse endet. Das bedingt auch unter den etablierten Wissenschaftler*innen eine Zugewandtheit zu transdisziplinären Forschungsdesigns und entsprechende Betreuung im Falle z.B. einer Promotion.

Jánszky: Die Investitionen in Praxisforschungsvorhaben lohnen sich auf jeden Fall. Sie bringen Menschen und Wissen zusammen und voran. Und das ist grundlegend, um in Transformationsanliegen voran zu kommen.  

Stand: 13.3.2023

Ansprechpartnerin

Anne Droscha
Tel. +49 6155 846985
Anne.Droscha(at)demeter.de

Kompass Praxisforschung

Nach fünf Jahren Projektarbeit im Praxisforschungsnetzwerk NutriNet haben wir im „Kompass Praxisforschung“ unsere Erkenntnisse zum Praxisforschungsprozess zusammengefasst. Wir schildern Konzept und Abläufe der Praxisforschung im NutriNet, benennen Erfolgsfaktoren und geben Impulse für Forschende und Koordinierende, damit die transdisziplinäre Zusammenarbeit gelingt.

Zum Kompass

Landkarte der Praxisforschung

Praxisforschung ist eine Gemeinschaftsaufgabe, in der viele Themen und Prozesse abgestimmt werden müssen. Diese Vielschichtigkeit haben wir im NutriNet auf humorvolle Weise in einer „Landkarte der Praxisforschung“ zusammengetragen, illustriert von Mathis Eckelmann. Die Karte soll mit viel Heiterkeit für andere Praxisforschungsinteressierte sichtbar und zugänglich machen, was in Praxisforschung alles steckt, wo Hürden und Ertragreiches im co-creativen Arbeiten liegen.

Zur Landkarte (pdf-Datei, 5,5 MB)

Literaturtipps

Ausgewählte Literatur zur Praxisforschung in der ökologischen Landwirtschaft finden Sie hier.

Letztes Update dieser Seite: 14.03.2024