Interview: Praxisforschung muss man leben

Mit Praxisforschung wird der Wandel in der Landwirtschaft von Beginn an mitgestaltet. In ihr liegt ein erhebliches Potenzial für Innovationen, das es noch mehr auszuschöpfen gilt. Deswegen wird an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE) das Verständnis dafür bereits den Studierenden nahegebracht. Für Wissenschaftler*innen gilt es, den eigenen Blickwinkel immer wieder zu verändern. Über die Chancen und Herausforderungen der Praxisforschung sprechen Dr. Henrike Rieken und Prof. Dr. Ralf Bloch. Beide arbeiten unter anderem im Praxisforschungnetzwerk NutriNet.

Was macht die Praxisforschung für die Wissenschaft interessant?

Ralf Bloch: Die Anforderungen an die Wissenschaft verändern sich. Wir stehen vor sehr großen Herausforderungen in der Landwirtschaft wie dem Klimawandel oder dem Verlust der Biodiversität. Zunehmend wird es eine Aufgabe der Wissenschaft sein, Lösungen dafür zu finden. Dabei gewinnen die angewandte Forschung und Praxisforschung zunehmend an Bedeutung.
Praxisforschung ist außerdem ein Werkzeug, um Veränderungen in der Praxis zu bewirken, beispielsweise bei der Einführung von Klimaschutzmaßnahmen oder neuen Anbauverfahren und Fruchtarten für die geänderten klimatischen Bedingungen in Deutschland. Hier ist die Praxisforschung in stärkerem Maße gefordert als die Grundlagenforschung, da sie die neuen Verfahren direkt mit den Praktiker*innen in der Praxis entwickelt.

Henrike Rieken: Das Konzept eines Praxisforschungs-Vorhabens muss gut verankert sein. Praxisforschung ist transdisziplinär, d.h. die Forschung und Praktiker*innen arbeiten von Anfang an zusammen an der Umsetzung der neuen Verfahren und Methoden. Teil des Forschungsprozesses ist es, sich miteinander auf den Weg zu machen, Erfahrungen zu sammeln und daraus zu lernen.

Wo liegen die Herausforderungen und Chancen bei der Praxisforschung aus Sicht der Wissenschaft?

Rieken: Die Wissenschaftler*innen müssen sich in die Rolle einfinden, offen und auf Augenhöhe mit der Praxis zusammen zu arbeiten. Von allen Beteiligten wird ein hohes Maß an Offenheit und Lernbereitschaft gefordert. Und es muss eine Fehlerkultur geschaffen werden.

Bloch: Das veränderte Rollenverständnis ist eine der Herausforderungen. Der Wissenschaftler forscht unter Praxisbedingungen zusammen mit dem Praktiker. Das heißt, der Landwirt wird nicht beforscht, sondern ist aktiv am Forschungsprozess beteiligt. Er wird nicht zum Forscher, aber zum forschenden Landwirt.
Wir Wissenschaftler*innen haben oftmals den Blick zu eng auf technische Innovationen wie neue Sorten oder Geräte und deren Anwendung in der Praxis. Die Praxisforschung stellt aber die soziale Innovation in den Vordergrund. Neue Technologien scheitern oft an der Einführung in die Praxis, weil das Umfeld des Landwirts vergessen wird. Der gemeinschaftliche Dialog kann zu einer erhöhten Akzeptanz für Veränderungsprozesse führen. Für mich als Wissenschaftler bedeutet das, dass ich bereit sein muss, mich auf diesen sozialen Entwicklungsprozess einzulassen.

Rieken: Die Überführung der technischen Innovationen in die Praxis der Landwirt*innen wird von Beginn an mitgedacht und auf der Fläche im Reallabor erprobt, auf der sie dann auch eingesetzt werden soll. So übernehmen Landwirt*innen diese Innovationen eher als wenn sie unter standardisierten Bedingungen jenseits des eigenen Ackers entwickelt werden. Zudem sind in der Wissensproduktion alle Beteiligten gleich, es gibt keine Hierarchien. Jeder bringt seine Beiträge und Kompetenzen ein, die gleichwertig sind. Hieraus ergeben sich aber auch Herausforderungen für die Koordination solcher Forschungsprozesse – und gleichzeitig liegt darin deren besonderer Reiz.
In der Ausbildung der Wissenschaftler*innen muss dieser Bereich ebenfalls intensiviert werden, um die unterschiedlichen Gruppen zusammenzubringen, zu vernetzen, zu übersetzen und diesen sozialen Prozess zu moderieren und zu steuern.

Bloch: Ein Spagat für die Wissenschaft ist zum einen die effektive Forschung in der Praxis, also wie setzen Praktiker*innen neue Maßnahmen um, und zum anderen die wissenschaftliche Validität der Daten, die schlussendlich belastbare Ergebnisse liefern müssen. Dazu müssen Formate und Methoden für die Praxis etabliert werden. Der Landwirt muss außerdem bereit sein, im Dialog mit dem Wissenschaftler experimentell aktiv zu werden, um im eigenen Betrieb etwas zu verändern.

Rieken: Das ist ein wichtiger Punkt: Die Landwirt*innen, die sich an Projekten in der Praxisforschung beteiligen wollen, müssen Ressourcen, darunter vor allem die eigene Arbeitszeit, bereitstellen – und dieser Mehraufwand muss auch angemessen entlohnt werden.

Bloch: Der innovative Ansatz an diesen Projekten ist, dass von Anfang an in der Praxis gearbeitet wird und nicht erst zum Ende des Projektes die Ansätze in die Praxis übertragen werden. Die Forschungsförderung berücksichtigt mittlerweile vermehrt diese Ansätze, auch weil der Handlungsdruck so groß ist: wir haben nicht mehr viel Zeit, wir müssen handeln und in die Umsetzung gehen. Handlungsorientierte Forschung wird zunehmend gefragt sein.

Welche Projekte habt Ihr im Bereich Praxisforschung? Ist die Beratung in Euren Projekten beteiligt?

Rieken: Die Beratung ist wesentlicher Akteur in Praxisforschungsprojekten, um weitere Landwirt*innen am Prozess und dem Wissensgewinn teilhaben zu lassen.Wir haben Projekte in allen Bereichen entlang der Wertschöpfungskette, sei es im Stall, auf dem Feld und im Laden – je nach Fragestellung.
Wir sind Partner im Praxisforschungsnetzwerk NutriNet. Über die EIP-Agri-Förderung sind wir im Projekt „Biogemüse aus Brandenburg“ aktiv. Hier arbeiten wir besonders eng mit Berater*innen aus dem Kartoffel- und Gemüseanbau zusammen, um Kompetenzen zu bündeln und das Wissen in eine breitere Praxis zu tragen. Weitere Projekte, die wir mit dem Ansatz der Praxisforschung bearbeiten, beschäftigen sich zum Beispiel mit Zweinutzungsrassen bei Hühnern oder Agroforstsystemen.
Außerdem haben wir das InnoForum Ökolandbau Brandenburg aufgebaut. Dadurch wird ein regelmäßiger Austausch und Kooperation zwischen Praxis, Forschung und Studierenden gewährleistet. Dieses Netzwerk läuft stetig und ist unabhängig von Förderperioden.

Bloch: Unser neuestes Projekt „Uckerrübe“ will den Anbau für Öko-Zuckerrüben in der Uckermark möglich machen. Dabei sind Akteure entlang der gesamten Wertschöpfungskette vom Anbau bis zur Verarbeitung dabei, praxisrelevante Ergebnisse zu erarbeiten und praxisreife Verfahren zu entwickeln.

Wie kann aus Eurer Sicht von Anfang an eine gute Zusammenarbeit aller Akteure umgesetzt werden?

Bloch: Die Motivation und das Interesse an Projekten entstehen vor allem, wenn man sich konkret um die Lösung von Herausforderungen aus der Praxis kümmert. Offenheit, Vertrauen und Toleranz sind für die Zusammenarbeit unentbehrlich. Die Landwirt*innen müssen bereit sein, ihre betrieblichen Problemfelder offen anzusprechen. Aber wir brauchen auch Wissenschaftler*innen, die bereit sind, interdisziplinär, also unter Einbezug verschiedener Wissenschaftsbereiche, und transdisziplinär, also gemeinsam mit der Praxis, zu arbeiten.
Eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre ist entscheidend für eine gute Praxisforschung.

Rieken: Praxisforschung muss man leben und verinnerlichen. Es braucht eine gegenseitige Akzeptanz der unterschiedlichen Disziplinen, das Zusammenspiel macht es interessant. Das Netzwerk InnoForum Brandenburg hilft uns bei der Anbahnung der Kooperationen und dem Aufbau der Vertrauensbeziehungen. Für diese Anbahnungsprozesse müssen im Übrigen auch Ressourcen bereitgestellt und gefördert werden, um gute Projekte aufzustellen und passende Konsortien zu bilden.

Bloch: Schlussendlich sind langfristige und stetige Beziehungen wichtig – dazu muss auch das Personal längerfristig finanziert sein. Gerade die Forschung im Ökolandbau muss langfristig gedacht werden: Denken wir nur an die Wirkung einer 8-feldrigen Öko-Fruchtfolge, deren Effekte auf die Bodenfruchtbarkeit erst nach sehr langer Zeit (z.T. erst nach 20 Jahren) eindeutig sichtbar werden. Davon sind wir im Hochschulbereich leider noch extrem weit weg. Hier muss die Politik geeignete Rahmenbedingungen schaffen.

Rieken: Die Forschung muss sich als Teil von Transformationsprozessen verstehen und zu Lösungen für die sich verändernden Bedingungen auf unserem Planeten und in der Landwirtschaft beitragen.

Wie gelingt der Transfer des Wissens aus der Praxis und in die Praxis?

Rieken: Die Ansätze werden direkt in der Praxis entwickelt und sind deshalb leichter für andere Betriebe übertragbar. An der HNE haben wir eine hochschulweite Transferstrategie erarbeitet und zeigen den Stellenwert von Transfer. Eine Transferveranstaltung ist zum Beispiel unser Jahrestreffen der Partnerbetriebe. Außerdem nutzen wir unterschiedliche Formate und Kanäle von Flyern über Blogs und Social Media, um die neuen Ergebnisse und Vorhaben regelmäßig bekannt zu machen. Hier sei die Website innoforum-brandenburg.de oder der Blog Ackerdemiker.in genannt.

Welche guten und schlechten Erfahrungen macht Ihr in den Praxisforschungs-Projekten?

Bloch: Der Aufwand an Zeit und Arbeit für den Forschungsprozess ist durch den partizipativen Ansatz deutlich höher, zum Beispiel in der Kommunikation. Es geht nicht nur um den naturwissenschaftlichen Prozess wie bei Exaktversuchen mit Boden- und Pflanzenproben, sondern auch darum, den sozialen Prozess mit der Feldforschung zu kombinieren und mit entsprechenden Methoden zu evaluieren. Man braucht viel mehr Methodenkenntnisse, beispielsweise auch aus den Sozialwissenschaften. Auch das gemeinsame Reflektieren braucht Zeit. Das Gute ist das Zusammenarbeiten an Veränderungen und das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels.

Rieken: Die Koordination und Organisation in der Praxisforschung sind herausfordernder. Oft laufen mehrere Dinge parallel und man muss aufmerksam bleiben, das Ohr immer an der Praxis haben, auch um neue Forschungsfragen und Entwicklungen aufzugreifen und das Vorhaben eventuell anzupassen.
Außerdem sind die befristeten Projektzeiträume ein Problem. Und immer wieder die Frage: Was kann ich dem forschenden Landwirt an Ergebnissen in diesem Zeitraum fest zusagen, ohne zu viel zu versprechen?

Es ist immer ein Balanceakt zwischen Vorwärtsgehen und Scheitern. Doch auch im Scheitern liegt eine Kraft aus der wir schöpfen können, denn nicht immer klappt alles wie am Schreibtisch geplant und manchmal entdecken wir darin auch was Neues, das viel besser passt. Es ist eben auch ein Lernprozess, der manchmal nervt, aber eben zugleich auch total motivierend ist.

Das Interview führte Irene Jacob, Fachberatung für Naturland. Es ist erstmals erschienen in den Naturland Nachrichten 1/2021.
Datum: 07.07.2021

Ansprechpartnerin

Anne Droscha
Tel. +49 6155 846985
Anne.Droscha(at)demeter.de

Literaturtipps

Ausgewählte Literatur zur Praxisforschung in der ökologischen Landwirtschaft finden Sie hier.

Letztes Update dieser Seite: 01.02.2024